Ab dem 2. Februar 2025 stehen EU-Mitgliedstaaten die Türen offen, KI-gestützte Technologien für die Überwachung in öffentlichen Räumen einzusetzen. Was als ambitioniertes Gesetz zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI) begann, entwickelt sich jetzt zum Einfallstor für umfassende staatliche Kontrolle – mit Frankreich an vorderster Front.
Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit wurden zahlreiche Ausnahmen in das Europäische KI-Gesetz (AI Act) eingebaut. Diese ermöglichen es Behörden, Gesichtserkennungstechnologien und Echtzeitüberwachung nicht nur für Strafverfolgung, sondern auch bei politischen Protesten oder in Grenzregionen einzusetzen. „Das ist der Anfang vom Ende der Anonymität in öffentlichen Räumen“, warnen Kritiker.
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Frankreichs geheimer Einfluss: Lobbyismus auf höchstem Niveau
Interne Dokumente enthüllen, wie Frankreich und weitere Staaten gezielt die Bestimmungen des KI-Gesetzes verwässerten. Ein zentraler Moment war ein Treffen des Ausschusses der Ständigen Vertreter (Coreper) im November 2022. „Die Ausnahme für Sicherheit und Verteidigung muss um jeden Preis erhalten bleiben“, forderte Frankreichs Vertreter.
Mit Erfolg: Die finale Gesetzesversion erlaubt Überwachungsmaßnahmen auch ohne die vorherige Genehmigung durch nationale Agenturen oder eine öffentliche Registrierung. Länder wie Italien, Ungarn und Griechenland unterstützten Frankreichs Linie, während zivilgesellschaftliche Organisationen lautstark protestierten. „Das Gesetz wurde zu einem industriegetriebenen Werkzeug, das den Schutz der Menschenrechte ignoriert“, so Sarah Chander vom Equinox Initiative for Racial Justice.
Mistral AI: Ein französischer Champion auf dem Vormarsch
Eine zentrale Rolle in Frankreichs Strategie spielt das Start-up Mistral AI. Das Unternehmen, gegründet 2023, hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einem der führenden Anbieter für KI-Technologien in Europa entwickelt. Mit Unterstützung der französischen Regierung und Investitionen von Branchengrößen wie Microsoft und Databricks konnte Mistral AI bereits mehr als 1 Milliarde Euro einwerben. Ein Börsengang ist in Planung, um die Unabhängigkeit des Unternehmens zu sichern.
Im Kontext des KI-Gesetzes steht Mistral AI exemplarisch für die Interessen der Industrie: Europäische KI-Unternehmen, darunter Mistral AI, arbeiteten eng mit Technologiekonzernen zusammen, um die Regulierung in Brüssel zu beeinflussen. Kritiker werfen ihnen vor, eine Deregulierung voranzutreiben, die sowohl Grundrechte als auch Wettbewerbsneutralität gefährdet.
Polizeistaat durch die Hintertür?
Besonders brisant ist die Rolle der biometrischen Systeme. Während die Nutzung solcher Technologien in Schulen oder am Arbeitsplatz verboten ist, dürfen Polizei- und Grenzbehörden sie weiterhin einsetzen. Dabei bleibt es nicht nur bei der Identifikation: Systeme zur Erkennung von Emotionen und politischen Einstellungen sind ebenfalls zulässig, wenn es der „nationalen Sicherheit“ dient. Frankreichs Argumentation ist eindeutig: „Es ist wichtig, Personen zu identifizieren, die eine religiöse oder politische Überzeugung ausdrücken und eine Gefahr darstellen könnten.“
Zudem öffnet das Gesetz eine Hintertür für die Einbindung privater Unternehmen in staatliche Überwachungsmaßnahmen. Experten befürchten, dass dies den Weg für die umfassende Privatisierung von Sicherheitsdiensten ebnet. „Die Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Unternehmen wie Mistral AI zeigt, wie eng die wirtschaftlichen Interessen mit der politischen Agenda verknüpft sind“, so ein Experte aus dem Europäischen Parlament.
Europaweite Konsequenzen: Wohin führt dieser Weg?
Frankreich ist nicht allein. Länder wie Griechenland, das durch seine Grenzlage besonders betroffen ist, haben ebenfalls stark für die Lockerung der Regulierungen geworben. Griechenlands Regierung forderte explizit die Möglichkeit, biometrische Systeme in Gefängnissen und Grenzregionen einzusetzen. Dies könnte insbesondere Migranten und Asylsuchende treffen, die bereits in prekären Situationen leben.
„Es ist ein gefährlicher Präzedenzfall, der die Grundrechte in der EU massiv untergräbt“, warnte die European Digital Rights Network bereits 2020. Die Sorge: Mit der Einführung dieser Technologien droht Europa, seine Vorreiterrolle im Schutz von Freiheitsrechten zu verlieren.
Die schmale Gratwanderung zwischen Innovation und Überwachung
Während Unternehmen wie Mistral AI von den neuen Regelungen profitieren, warnen Experten vor den langfristigen Folgen. „Die Regulierungsmechanismen greifen erst nach einer Verletzung von Rechten, nicht davor“, erklärt Professor Rosamunde van Brakel von der Vrije Universiteit Brüssel. Die Kritik ist deutlich: Anstatt soziale Probleme zu lösen, werden Milliarden in Überwachungstechnologien investiert.
Die Symbiose aus politischen Interessen und wirtschaftlicher Macht steht im Zentrum der aktuellen Entwicklungen. Ob Europa dabei den richtigen Weg zwischen Innovation und Grundrechtsschutz findet, bleibt abzuwarten. Der Ausgang wird nicht nur die technologische, sondern auch die gesellschaftliche Zukunft Europas prägen.
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